Fred Thieler (1916-1999)
„Maler sein heißt für mich, die Existenz eines Zeitgenossen zu führen, der den Hauptteil seines Daseins mit dem Versuch verbringt, die Impulse seines Lebens: Anregungen wie Depressionen, Intuitionen wie berechnende Überlegungen, Reaktionen von Einzelerlebnissen wie Erlebnisketten malend aufzuzeigen – oder im Malvorgang zu gewinnen.”
Fred Thieler
Fred Thieler gehört zu den führenden Künstlern des Deutschen Informel – der ersten Kunstströmung nach 1945, die nach den unmittelbar gemachten Erfahrungen mit der NS-Diktatur nach vorne strebte, ins Ungewisse – die brechen wollte mit denen, die „rückwärtsblickend auf der Stelle treten“ (Ruprecht Geiger).
Den Arbeiten von Fred Thieler begegnete ich bereits in jungen Jahren. Ich war begeistert von seiner Farbwahl, vor allem von den bis heute zeitlosen Arbeiten der 60er Jahre. So war es mir eine besondere Freude, in Kooperation mit der Galerie Weick in Düsseldorf 2016 eine Ausstellung mit Arbeiten von Fred Thieler zu zeigen, die zeitgleich in beiden Galerien den Besuchern ermöglichte, die Entwicklung seines Werkes in einer Zeitspanne von 1949 bis 1998 nachzuvollziehen. Die gezeigten Arbeiten stammten aus zwei rheinischen Privatsammlungen und wurden erstmals auf dem Kunstmarkt angeboten.
Für den damals erschienenen kleinen Katalog schrieb Susanne Ristow einen Text.
(please scroll down).

Ohne Titel, 1964 (zu sehen in der Rubrik Contemporary Art)
Richtiges Leben (von Susanne Ristow)
Bilder kommen von Bildern, und eine Stunde Null für die Zeit der Bildkunst nach dem zweiten Weltkrieg anzunehmen, kommt einer glatten Lüge gleich.
Fred Thieler beginnt damals zumindest bei Drei (1) und nicht bei Null. Er kann anknüpfen an die große Tradition der frühmodernen Maler, Graphiker, Dichter und Komponisten Münchens, an die Forschungen und Experimente beispielsweise eines Paul Klee, Wassily Kandinsky oder Arnold Schönberg. Zudem weiß er wohl, dass sein Leben in keinem Moment der vergebliche Versuch des richtigen Lebens im falschen ist. (2)
Für ihn gilt früh als richtig, was wenig später auch Leitmotiv der neuesten Gegenwartskunst (3) wird:
Seine persönliche Haltung entspricht der Form seiner Bilder.
Die Farben erlauben uns, die Raumrhythmen zu identifizieren, die sonst unsichtbar bleiben würden. Das alles ist Thielers Bildsprache. Ebenso wie die eines Dichters oder Komponisten ist sie indirekt. Sie „steht für etwas“. (4)
Fred Thieler muss aus gutem Grund nach Krieg und Faschismus nicht bei zero anfangen, wie so manch ein anderer Künstlerkollege seiner Generation. Als er 1946 mit gestandenen dreißig Lebensjahren endlich ein offizielles Kunststudium an der Münchner Kunstakademie aufnehmen kann, darf er sich sicher sein, auch bis dato eine Reihe von wichtigen Entscheidungen schon ganz und gar richtig getroffen zu haben. Der in Königsberg geborene junge Mann hat ursprünglich vorgehabt, Mediziner zu werden, sich dafür in der ostpreussischen Heimatstadt auch 1936 immatrikuliert und trotz oder gerade wegen seines Status als „Halbjude“ 1939 am Blitzkrieg in Polen teilgenommen. Als es in den vierziger Jahren an die staatliche Verfolgung der Partner aus Mischehen geht und er als Sohn einer solchen von den Nürnberger Gesetzen betroffenen Verbindung exmatrikuliert wird, taucht er in der Münchner Kunstszene unter. Mit falschen Papieren, viel Mut und energischem Überlebenswillen schließt er sich dem studentischen Widerstand Münchens um die „Weiße Rose“ an, findet Verbündete und schafft es, sich und anderen, vor allem auch seiner jüdischen Mutter, im Untergrund das Überleben bis zum Ende des NS-Terrors zu ermöglichen. Überleben im Faschismus, nicht nur körperlich, sondern auch geistig zu erfahren, macht bei Thieler eine Dimension des Werkes aus – nicht als moralische Dimension, sondern als eine des freien Raumes. Früheste bildnerische Gehversuche des Künstlers ab 1942 erinnern an Landschaften von Liebermann und Corinth, doch bald lässt er den Realismus der Spätimpression mit seinem allzu bekannten Raumerlebnis komplett hinter sich, um ganz eigenen Bildräumen Realität zu verleihen. Fortan wird seine Malerei, wie er selbst es nennt, zur Projektion eines Daseinserlebnisses. (5)
Warum ist es so verblüffend leicht, einen Künstler, der stets jeden Wunsch nach Stilbildung als verdächtig erklärt hat, dennoch in jeder seiner Werkphasen deutlich zu erkennen? Es fällt schwer, diese Frage nüchtern und angemessen zu beantworten ohne Ausflüchte ins Kosmische, Esoterische und Nebulöse zu unternehmen. Thieler stand mit beiden Beinen im richtigen Leben, mystische Eskapaden würden seiner Bildwelt ganz und gar nicht gerecht.
Er benutzt Farben wie es nur die großen Graphiker tun: gezielt, auf das Wesentliche reduziert, in ihrem Verhältnis zu den Nichtfarben Schwarz und Weiß. Dieses besondere graphische Gespür für Licht im Dunkeln und vieles mehr mag er bei dem großartigsten Werkmeister seiner Zeit, dem seit 1950 wieder in Paris ansässigen Druckgraphiker Stanley William Hayter entwickelt haben, als er Anfang der fünfziger Jahre den für ihn so lange unmöglichen Aufenthalt in der – seinerzeit noch nicht endgültig durch New York in den Schatten gestellten – Kunststadt Paris in aller Intensität erleben darf.
Ob die bevorzugte Verwendung der leuchtenden Farben Rot und Blau (und Licht spendendem Weiß) nun schlicht seiner Begeisterung für den freiheitlichen Impetus Frankreichs oder gar mittelalterlicher Farbgebung mit besonderer Wertschätzung für den Aspekt der Lichthaltigkeit geschuldet sein mag, kann nur vermutet werden, Selbstzeugnisse sind rar. Thieler ist zeitlebens nicht so sehr mit seinem persönlichen Image, sondern immer mit seinem jeweils aktuellen Bild befasst. Diese Haltung bringt ihn vielleicht mehr noch in die Nähe eines medizinisch, bisweilen alchemistisch orientierten Naturforschers, der im Bilde sein will:
Die Farben haben eine besondere Funktion. Einmal nur Blau, mit etwas Weiß für das ganze Bild, in anderen rote Linienelemente zu Schwarz und Grau, in noch anderen Zitronengelb zu Schwarz und Weiß; so gehen Pathologen mit Farben um, wenn sie Bakterienkulturen färben. (6)
So schreibt der aus Münchner Tagen im Kreis der avantgardistischen Gruppe ZEN49 (7) verbundene englische Kunstkritiker John Anthony Twaiths im Jahr der Anerkennung 1959, als Fred Thieler nicht nur deutliches Lob von der Presse, sondern auch die documenta-Teilnahme und die Annahme einer Professur an der Berliner Hochschule für Bildende Kunst zu verzeichnen hat. Spätestens mit dieser documenta II werden für beträchtliche Zeit die Weichen für die Zukunft der Kunst in Deutschland gestellt: Die begeisternde Unmittelbarkeit und Unverschämtheit des großformatigen amerikanischen All-Overs eines Jackson Pollock bricht sich Bahn. Die völlig freien Abstraktionen, einer geradezu astrophysikalisch anmutenden Farbwelt beeindrucken gleich mehrere Generationen deutscher Künstler. Neuartig ebenfalls wirkt eine bildnerische Raumauffassung nichteuklidischer, ungeahnter Dimension, die zugleich eine Idee von Demokratie verheißt, die zwar immer noch Ideologie, aber mittlerweile auch Freiheitsversprechen ist. Doch freie Kunst ohne Politik ist eine ebensolche Lüge wie die vermeintliche Stunde Null.
Die Frage nach (liberaldemokratischer) Abstraktion oder (sozialistischer) Figuration bestimmt bis zum Todesjahr des Künstlers 1999 alle Inhalte deutscher Malerei. Thieler muß sich 1959 bei allem Lob und als Teilnehmer der mittlerweile legendären Ausstellung in Kassel jedoch allzu oft auch anhören, seine Malerei stelle den modischen Versuch dar, dem Vorbild der Maler der Siegermacht USA nachzueifern. Die Kritik greift kurz und beschränkt sich auf die Wahl seines Malgewebes (großformatige Baumwollnessel) und seinern (horizontalen, am Boden ausgeführten, flüssigen) Maltechnik. (8) Es ist richtig, dass Thieler die amerikanischen Maler liebt und bewundert (insbesondere den früh verstorbenen Franz Kline, dem er 1962 sein „Epitaph für Franz Kline“ widmet). Es ist auch richtig, dass er – finanzielle Möglichkeiten vorausgesetzt – gerne in New York wohnen möchte (9), und in den 70ern schließlich auch eine Weile in Minneapolis arbeitet. Doch ist er deswegen etwa ein Epigone amerikanischer Kunst? Ist es nicht vielmehr umgekehrt?
Sind es nicht die amerikanischen Maler, die das Erbe der Moderne im Fahrwasser der europäischen Künstleremigranten, die oft schon während des Krieges als Lehrer in den USA zu wirken beginnen, aufsaugen und in neue Formen gießen?
Von den bekanntesten Beispielen (so dem Einfluß eines Großmeisters wie Max Ernst auf den jungen Wilden Jackson Pollock) einmal abgesehen, ist ein so einzigartiger künstlerischer Techniker wie der schon genannte Stanley W. Hayter, der mit seiner Werkstatt in New York die amerikanische Kunstszene nachdrücklich prägt, ein hervorragendes Beispiel für die Art und Weise, wie die kulturelle Drainage Europas während des zweiten Weltkrieges zum Entstehen einer fruchtbaren, schnell anwachsenden US-amerikanischen Kunstszene führt, die der alten Welt mit ihrer Kunsthauptstadt Paris bald endgültig den Rang als Zentrum der Moderne streitig machen soll.
Fred Thieler konnte Europa im Faschismus nicht verlassen und stand auch nach dem Krieg hierzulande im richtigen Leben seinen Mann – unabhängig von der spezifischen Profession.
Seine ersten Bilder nach der langen Nacht der NS-Zeit tragen Titel wie „Morgen“ und sind an Lichthaltigkeit, Klarheit und Transparenz kaum zu übertreffen. Gleichzeitig haben schon die Bilder der fünfziger Jahre trotz eher „künstlicher“ Farbigkeit die Struktur natürlich wachsender Formen und enthalten kristallinische Entfaltungen wie auch explosive Kerne. (10) Die deutlich überstrapazierte physikalische Metaphorik von der „Dynamik“ der Farben und Formen im Informel und anderen Erscheinungen der Nachkriegsmalerei trifft natürlich auch auf Thieler zu, aber damit ist wenig gesagt.
Viel interessanter erscheint es, die lebenslange Fähigkeit Thielers zu untersuchen, Bilder so offen zu halten, dass sie Unsicherheit und Vertrauen (11) gleichermaßen zur künstlerischen Methode wie zur Lebenseinstellung werden lassen. Und wenn man dennoch eine interdisziplinäre Perspektive einnehmen will, liegt es sicher näher, in den Lebenswissenschaften, im Wachsen und Werden, im organischen Eigenleben und in den evolutionären Prozessen dieser Bilder die angemessene Metaphorik zu suchen.
Nachdem Thieler in Paris gelebt hat, werden die technischen Experimente zahlreicher, Collage, Decollage, Reservierung, Abklatsch, Abrieb, Abdruck – das komplette Sortiment surrealistischer und druckgraphisch-alchemistischer Techniken – fließt in die abstrakten Bilder ein und läßt die Fähigkeit des Mannes, die richtigen Entscheidungen im richtigen Moment zu treffen, eindrucksvoll zur Wirkung kommen. In den 60er Jahren beginnt Fred Thieler die gestärkte, steife Nessel vor dem Malen zu falten und zerknüllen und verstärkt die so entstehenden Zufallsstrukturen, an denen ihn vor allem strahlend weiße lichte Freiflächen im Bild faszinieren. Durch die zusätzliche Bearbeitung der nassen, flüssigen Farbe mit Plastikfolien entstehen Abklatscheffekte und intendierte Farbspuren. Alles hängt mit allem zusammen, Bilder sind Beziehungsgeflechte (12), bemerkt er anlässlich seiner Arbeit an der großformatigen Gesamtinstallation seiner Werke in der Heilig Geist Kirche in Emmerich (1965/66). Mit Gießkannen auf den Bildern verteilt, beginnt die Farbe nun endgültig an zu fließen und sucht sich quasi gemeinsam mit dem Künstlerregisseur mal zögernd, mal energisch ihren Weg. Den früh entwickelten Sinn für das Richtige läßt sich Thieler bis ins Alter nicht nehmen. Noch seine Werke der späten achtziger Jahre zeugen vom Zulassen, vom Grundvertrauen in die Natur der Farbe, der er forschendes Tun als Ergebnis offener Analyse als deutliche Intention entgegenbringt und doch im richtigen Moment ihren eigenen Lauf läßt – ganz wie im richtigen Leben.
1 Ricomincio da Tre Regie: Massimo Troisi, Italien 1980 Farbe 110 min
2 vgl. Theodor W. Adorno Minima Moralia Suhrkamp Frankfurt 1969 (1947)
3 Harald Szeemann When attitude becomes Form Kunsthalle Bern 1969
4 John Anthony Twaiths über Fred Thieler in seinem Artikel Katharsis (DZ, 59) in der Textsammlung: Der doppelte Maßstab. Kunstkritik 1955–1966 Egoist Bibliothek Bd. 1 Frankfurt 1967
5 Selbstzeugnis von Fred Thieler in: Wolfgang Rothe (Hg.) Wegzeichen im Unbekannten. Neunzehn deutsche Maler zu Fragen zeitgenössischer Kunst Rothe Heidelberg 1962 S. 40–43
6 John Anthony Twaiths über Fred Thieler in seinem Artikel Katharsis (DZ, 59) in der Textsammlung: Der doppelte Maßstab. Kunstkritik 1955–1966 Egoist Bibliothek Bd. 1 Frankfurt 1967
7 Thieler war zunächst Gast und ab 1953 Vollmitglied dieser für die Abstraktion in Deutschland wegweisenden Gruppe mit deutlichen Bezügen zur japanischen Avantgardekunst der 1950er Jahre (Gutai)
8 Im Werkverzeichnis schreibt Andrea Firmenich dazu Anfang der sechziger Jahre findet Thieler – scheinbar plötzlich – den Mut zur großen Leinwand. Natürlich ist der Wechsel zu großen Formaten alles andere als zufällig, wird doch die schiere Größe der US-amerikanischen Keilrahmen mit ihrem Nesselgewebe zum bleibenden Eindruck der Documenta II für jeden europäischen Künstler!
vgl. Jörn Merkert, Andrea Firmenich (Hg.) Fred Thieler. Malerei (Werkverzeichnis) Wienand Köln 1995
9 Selbstzeugnis von Fred Thieler in: Wolfgang Rothe (Hg.) Wegzeichen im Unbekannten. Neunzehn deutsche Maler zu Fragen zeitgenössischer Kunst Rothe Heidelberg 1962 S. 40–43
10 Werner Haftmann im Katalogtext zu Fred Thielers Ausstellung in der Modernen Galerie Otto Stangel
München 1958 Die Formel könnte heißen: – Natur + Technik + Geschwindigkeit.
11 Selbstzeugnis von Fred Thieler in: Wolfgang Rothe (Hg.) Wegzeichen im Unbekannten. Neunzehn
deutsche Maler zu Fragen zeitgenössischer Kunst Rothe Heidelberg 1962 S. 40–43
12 Andrea Firmenich Fred Thieler. Dialog mit der Farbe (Katalog Kunsthalle Emden) Wienand Köln 1991, S. 52