Erich Reusch – Dezentral
Zur Ausstellung vom 25. Oktober – 17. November 2024
Dem Werk von Erich Reusch begegnete ich erstmals 1999, als ich zur feierlichen Enthüllung einer seiner Skulpturen vor dem damals neuen Hauptgebäude der Stadtwerke in Lüdenscheid eingeladen war. Es handelte sich um eine große Arbeit aus Corten-Stahl – ein Werk, in das ich mich zunächst hineinsehen und hineindenken musste.
Mit den Jahren wuchs meine Faszination für Reuschs Arbeiten, seine Haltung zur Kunst und seine konsequente formale wie inhaltliche Reduktion. Umso mehr freute es mich, ihn 2016 persönlich kennenzulernen.
Ein Jahr später, 2017, zeigten wir in unserer Galerie in Düsseldorf die Ausstellung DEZENTRAL, zu der Erich Reusch noch persönlich erschien. Die Galerie war bis auf die Straße gefüllt – mit Freunden, Sammlern und zahlreichen ehemaligen Schülern von der Düsseldorfer Kunstakademie. Und mitten in dieser dichten Atmosphäre: der alte Reusch – präsent, konzentriert, lebendig und noch immer voller Energie.
Er war bis zu seinem Tod im Jahr 2019 unermüdlich aktiv. In seinen späten Jahren entstand ein bemerkenswertes Alterswerk aus Gemälden und Zeichnungen, in dem Reusch noch einmal seine ganze künstlerische Freiheit zeigte. Manche dieser späten Arbeiten erinnern in ihrer Direktheit fast an Kinderzeichnungen – für mich persönlich gehören sie zum Stärksten, was er geschaffen hat.
Einen umfassenden Einblick in dieses eindrucksvolle Spätwerk bot 2020 die Stiftung Situation Kunst im Museum unter Tage in Bochum. Der begleitende Katalog „Erich Reusch – grenzenlos“ (ISBN 978-3-941778-16-0) ist eine gelungene Dokumentation und ein wichtiges Zeugnis seines Schaffens.


Links: Elektrostatisches Objekt, 1971 – rechts: ohne Titel, Diptychon, 2012
Erich Reusch – Raum, Grenze, Energie
Erich Reusch (1925–2019) gehört zu den eigenständigsten und zugleich einflussreichsten Künstlerpersönlichkeiten der deutschen Nachkriegsmoderne. Sein Werk bewegt sich zwischen Skulptur, Architektur, Zeichnung und Rauminstallation – stets getragen von einem tiefen Interesse an den Wechselwirkungen von Körper, Raum, Energie und Wahrnehmung.
Nach einem Architekturstudium in Detmold wandte sich Reusch ab den 1950er Jahren zunehmend der freien Kunst zu. Frühzeitig verließ er die traditionelle Vorstellung von Skulptur als geschlossener Körper im Raum. Stattdessen verstand er seine Arbeiten als Eingriffe in das räumliche Kontinuum, als Erweiterung des Skulpturalen in Richtung physikalischer Felder und atmosphärischer Spannungen. Er untersuchte das Verhältnis von Materie und Leere, von Volumen und Umraum, von Sichtbarkeit und Wirkung.
Ein zentrales Thema seines Werks ist die „Grenze“ – nicht im Sinne einer trennenden Linie, sondern als Ort der Spannung, des Übergangs und der energetischen Aufladung. Reuschs Skulpturen, oft aus industriellen Materialien wie Corten-Stahl, Aluminium oder Plexiglas gefertigt, erzeugen Räume, die nicht nur durch Masse, sondern vor allem durch ihre Wechselwirkung mit Licht, Bewegung und dem Betrachter erfahrbar werden.
Internationale Beachtung fand Reusch spätestens 1970 mit seiner Teilnahme an der Biennale von Venedig. In Deutschland war er in zahlreichen wichtigen Ausstellungen vertreten, unter anderem mehrfach bei der documenta in Kassel (1968, 1977). Als Professor an der Kunstakademie Düsseldorf prägte er Generationen von Künstlerinnen und Künstlern und trug wesentlich zur Etablierung eines erweiterten Skulpturbegriffs bei.
Sein Spätwerk – insbesondere die ab etwa 2010 entstandenen Zeichnungen und kleinformatigen Bildobjekte – zeugt von einer ungebrochenen Experimentierfreude. Mit verblüffender Leichtigkeit und formaler Freiheit verdichtete Reusch darin sein Lebenswerk zu einer letzten, poetischen Geste der Offenheit.
Erich Reuschs Kunst ist kein statisches Objekt, sondern ein dynamischer Vorschlag zur Erfahrung von Raum und Welt. Sein Werk bleibt ein stilles, aber nachhaltiges Plädoyer für eine Kunst, die nicht erklärt, sondern erfahrbar macht – jenseits festgelegter Systeme und fern jeder didaktischen Absicht.