Jupp Lückeroth (1919-1993)
„1.10.62“, 1962
Filzstift auf Papier
68 x 48 cm
75,5 x 55 cm (Rahmen)
unten mittig betitelt und signiert
1.10.62 Lückeroth
publiziert in:
Jupp Lückeroth, Skriptografien, Galerie Heinz Bossert Köln, 2005
Euro 2.400,-
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„… Während seine Malerei wiederholt ausgestellt und auch in Katalogen dokumentiert wurde, sind seine Zeichnungen bisher kaum bekannt; erst posthum wurden sie in seinem Nachlass entdeckt. Das hier nun zum ersten Mal ausgestellte Konvolut entstand zwischen 1959 und 1969, der weitaus größere Teil davon stammt aus den Jahren 1961 bis 1963, und nur wenige Arbeiten nahmen das Thema 1969 noch einmal auf. Die meisten Arbeiten tragen statt Titeln ihr Entstehungsdatum, so daß die gesamte Reihe auch wie ein visuelles Tagebuch aufgefaßt werden kann.
Einige weisen den bisher nicht entschlüsselten Titel „Spann“ auf; andere sind rückseitig als „Koordinierung gegensätzlicher Systeme“ bezeichnet – ein Hinweis auf Lückeroths auch hier verfolgtes Anliegen, Kunst und Natur einander anzunähern durch eine beiden gemeinsame Formensprache. Erneut greift Lückeroth zu seinem ureignen Thema, der Wellenbewegung, die hier nun aber, ganz in der seriellen, ja fast rituellen Wiederholung, ganz andere Formen annimmt als in den Gemälden. Das liegt hauptsächlich am Medium; die Zeichnung war schon immer das intimste und spontanste Ausdrucksmittel des bildenden Künstlers. Die Hand greift fast automatisch nach dem Stift und setzt an zur elementaren Zeichengeste des Hin und Her. Auf und Ab. Ihre gleichförmige Bewegung hinterläßt oszillierende Spuren, die als Zickzack- oder Schlangenlinien in stetiger Kontinuität über das Papier laufen und es mit einer Art skripturalem Muster überziehen. Manchmal verlagern sich die Spuren, verdichten oder verjüngen sich, werden breiter oder schmaler. Immer aber variieren sie das bekannte Grundmuster der hin und erschwingenden Bewegung. Von Monotonie oder Gleichförmigkeit kann aber keine Rede sein. Im Gegenteil: Blatt für Blatt arbeitet der Künstler aus seinem bewußt reduzierten „Modul“ dessen scheinbar grenzenlose Wandlungsfähigkeit und Variationsbreite heraus. Entsprechend vielfältig sind die Assoziationen, die von den in regelmäßigen Frequenzen hin und herpendelnden Linien ausgehen: das EKG am Krankenbett kommt ebenso in den Sinn wie die Tonfrequenzen einer Bandaufnahme oder Aufzeichnungen technischer Messungen.
Wo sich die Schwingungen bündeln, erinnert die Zeichenstruktur manchmal an Stacheldraht. Bei noch stärkerer Verdichtung der häufig mit Filzstift gezeichneten Zackenlinien neigt das Bild in der Wahrnehmung dazu, umzukippen; formbildend wirken nun die weißen Zwischenräume. Dann wieder erzeugt der Wechsel zwischen lockeren und gebündelten Setzungen so etwas wie Strudelbewegungen, die den räumlichen Eindruck eines Vorder- und Hintergrunds aufkommen lassen. Während in vielen Blättern eine einzige mit Filzstift aufgetragene Farbe, häufig Schwarz, dominiert, verfolgt Lückeroth ihre Spur zuweilen mit einer zweiten Farbe, was einen flimmernden Moirée-Effekt ergibt. Auf anderen Zeichnungen erfüllen horizontal gegen vertikal gesetzte Zeichenbewegungen die Bildfläche mit einer unruhigen Dynamik. Plastisch wie ein Relief formiert sich das Liniengespinst, wenn zwei verschwenden Farben organisch, in lockeren Schlingen, ineinandergreifen.
Lückeroths Zeichnungen rufen auch Erinnerungen wach an die „all over“-Strukturen,wie sie um 1950 erstmals in den Drip-Paintings von Jackson Pollock auftauchten – malerisch bewegte Flächen ohne Mittelpunkt und Richtung, die man sich über den Bildrand hinaus fortgesetzt vorstellen kann. Bei Lückeroth aber sitzt die Zeichnung fast immer mittig auf dem Papier, vom Weiß des Blattes „eingerahmt“ wie eine Art Satzspiegel, der suggeriert, daß es sich bei den Linienstrukturen auch um Text handeln könnte, unentzifferbare Schriftzeichen einer fremden Sprache vielleicht. Die Punkte, die auf manchen Blättern in regelmäßigen Abständen auftauchen, erinnern an die damals noch gebräuchliche Kurzschrift Steno, was die – scheinbare – Schriftlichkeit der Linienverläufe unterstreicht.
Diese Zeichnungen von Jupp Lückeroth repräsentieren beispielhaft, wofür der Kunsthistoriker und Informel-Experte Manfred de la Motte den Ausdruck „skripturale Malerei“ prägte. Im Katalog zur gleichnamigen Ausstellung.
1962 im Haus am Waldsee in Berlin schrieb er: „Unser Leben ist überwuchert von Schrift in jeder Form, es gibt keinen Moment des Alltags, der nicht von Schrift, Zeichen und Signal bestimmt ist. … Es entsteht eine Kunst, – nicht unbedingt nur Malerei – die diese wuchernde Welt der Schrift einbezieht, sich dieser Reizüberflutung stellt und Buchstaben oder deren Elemente und Schreibaktionen als Material benutzt.“ Manchmal verläuft die Linienschrift so engmaschig, daß die Zeichnung die Gestalt eines Gewebes annimmt, wie aus Draht oder Faden gewirkt.
Hier wird der fiktive Text zur Textur.
Der gleichmäßige Rhythmus der Linienführung macht diese Zeichnungen zugleich zu Dokumenten ihrer eigenen Entstehung(szeit), graphischen Resümees eines Prozesses, der mit jedem neuen Blatt seine Fortsetzung erfährt. „Es dürfte mir gelungen sein, einen fließenden Zeitraum bildlich einzurichten“, schrieb Lückeroth in seinem Manuskript.
So wie die Welle die Urform der Naturbewegung darstellt, schlägt sich hier die Urbewegung der zeichnenden Hand unmittelbar nieder, fast wie ein Seismograph scheint sie die inneren Ströme und Wellen aufzuzeichnen.
In der seriellen Regung und formalen Mannigfaltigkeit fügen sich die Einzelblätter dieser Serie vor dem betrachtenden Blick sukzessive zu einem großen, übergeordneten Blick „Inbild“ zusammen. Es hilft us, Zugang zu gewinnen zu einem zu Unrecht vernachlässigten, außergewöhnlichen Künstler des deutschen Informell.“
aus: Spann! Zeichnungen aus dem Informel, Dr. Sabine Schütz
veröffentlicht in: Jupp Lückeroth, Skriptografien, Galerie Heinz Bossert Köln, 2005
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